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Multikulturalismus oder Leitkultur

Ein Kommentar

Die Immigration hunderttausender muslimischer Einwanderer wirft Fragen auf, die für Europa nach den Anchlägen von 9/11, London und Madrid, und der Empörung der muslimischen Welt über die Mohammed-Karikaturen immer brisanter werden. Wie soll man den Einwanderern begegnen, wie sie am besten in unsere Gesellschaft integrieren. Welches Gesellschaftsmodell ist darin erfolgreicher, das französische Modell der Laicité oder der Multikulturalismus angelsächsischer Prägung?

Die Debatte manifestiert sich an Ayaan Hirsi Ali, einer Freundin des ermordeten niederländischen Filmemachers Theo van Gogh (”Submission”), die entschlossen für die Werte der Aufklärung eintritt, obwohl sie selbst mit Morddrohungen fundamentalistischer Moslems konfrontiert ist.

Rund um ihre Person entspinnt sich in den ersten Monaten das Jahres 2007 eine intensive Diskussion, die von Ian Buruma mit seinem Buch „Murder in Amsterdam“ und dessen Rezension durch Timothy Garton Ash angeheizt worden ist. Die „Fundamentalistin der Aufklärung“ Hirsin Ali wird darin mit dem Mörder van Goghs, Mohammed Bouyeri, gleichsetzt: beide seien radikal, beide seien Krieger, der eine mit dem Dolch, die andere mit dem Stift.

Gegen diesen Relativismus wehrt sich der Pariser Essayist Pascal Bruckner mit einem leidenschaftlichen Plädoyer für einen aufgeklärten Staat nach französischem Vorbild. In kurzer Zeit greifen auch Auch Necla Kelek, Paul Cliteur, Lars Gustafsson, Stuart Sim, Ulrike Ackermann, Adam Krzeminski, Halleh Ghorashi und Bassam Tibi in die Debatte ein. Das Ergebnis sind Texte von zeitloser Gültigkeit, die hier ausdrücklich empfohlen werden.

Die Chronologie der Debatte ist mit allen Texten im Kulturmagazin Perlentaucher unter dem Zitel „Islam in Europa“ veröffentlicht worden. Dazu finden sich an dieser Stelle eine Vielzahl weiterer Links zu weiterführenden Kommentaren  aus aller Welt rund ums Thema. Lesebefehl!

Hier, sozusagen als Backup, die einzelnen Beiträge als pdf-Dokumente. Die zusammenfassenden Beschreibungen wurden vom Perlentaucher übernommen.

Fundamentalismus der Aufklärung oder Rassismus der Antirassisten?
24. Januar: Ayaan Hirsi Ali sieht nicht nur gut aus, sondern beruft sich auch noch auf Voltaire. Da übertreibt sie, finden Ian Buruma und Timothy Garton Ash, und erklären sie zur „Fundamentalistin der Aufklärung“. Sie selbst verkörpern den Rassismus der Antirassisten. Von Pascal Bruckner

Die Freiheit kann nicht staatlich verordnet werden
29. Januar: Niemand verteidigt Ehrenmorde oder die Beschneidung von Mädchen. Straftaten sind Sache der Strafverfolgung. Viel verzwickter ist die Frage, wie man verhindert, dass gewalttätige Ideologien die durchschnittlichen Muslime anstecken. Eine Antwort auf Pascal Bruckner. Von Ian Buruma

Lieber Pascal als Pascal Bruckner
1. Februar: Weder separatistischer Multikulturalismus noch republikanischer Monokulturalismus sind Erfolg versprechende Modelle. Integrationspolitik kann nicht auf der Annahme basieren, dass Millionen von Muslime in Europa ihren Glauben aufgeben. Von Timothy Garton Ash

Die Stereotype des Mr. Buruma
5. Februar: Der Islam ist nicht so stark in sich differenziert, wie es Ian Buruma in seiner Antwort auf Pascal Bruckner behauptet: Im Gegenteil – er ist eine drückende soziale Realität, kodifiziert in der „Kairoer Erklärung der Menschenrechte“, die von 45 muslimischen Staaten unterzeichnet wurde und die die Scharia zum Maßstab macht. Von Necla Kelek

Krieger ist nicht gleich Krieger
6. Februar: Ian Buruma vertritt in „Murder in Amsterdam“ eine postmodernistische Auffassung, die die radikale Aufklärung mit dem radikalen Islamismus gleichsetzt. Aber so lassen sich religiöse Eiferer nicht befrieden. Job Cohen, Bürgermeister von Amsterdam kann ein Lied davon singen. Von Paul Cliteur

Der Dogmatismus der Aufklärung
7. Februar: Ich bewundere die Leistungen der Aufklärung kein bisschen weniger als es Professor Cliteur zu tun scheint, aber ich glaube auch, dass eine ihrer größten Leistungen die Zurückweisung aller Dogmatismen ist. Eine Antwort von Ian Buruma an Paul Cliteur

Identität und Migration
8. Februar: Moderne liberale Gesellschaften haben schwache kollektive Identitäten. Postmoderne Eliten, besonders in Europa, glauben heute, dass ihre Identitäten nicht mehr länger von Religon und Nation bestimmt werden. Aber wenn unsere Gesellschaften nicht offensiv liberale Werte vertreten, können sie von Migranten in Frage gestellt werden, die genauer wissen, wer sie sind. Von Francis Fukuyama

Logik der Toleranz
17. Februar: Die verschiedenen Ansprüche oder Anschauungen in den jeweiligen „Kulturen“ sind nicht miteinander vereinbar. Selbstverständlich sollten Monotheisten, Atheisten und Polytheisten idealerweise in der Lage sein, in friedlicher Nachbarschaft zu leben. Aber die Gesetze der Scharia und die Regeln westlicher Demokratien sind vollkommen unvereinbar. Und diese Unvereinbarkeit ist im „multikulturellen Gespräch“ nicht einfach wegzudiskutieren. Von Lars Gustafsson

Schlagt nicht die Postmodernen
21. Februar: Das eigentliche Problem heißt Dogmatismus. In seinem Kern hinterfragt der Relativismus die Vorstellung von einer absoluten Wahrheit – eben dessen, worauf sich alle zum Fundamentalismus Neigenden berufen. Schlimmer noch, Fundamentalisten weigern sich sogar anzuerkennen, dass andere Standpunkte überhaupt Gültigkeit besitzen können. Mit ihnen kann man nicht reden – weder über Multikulturalismus, noch sonst etwas. Von Stuart Sim

Lob der Dissidenz
25. Februar: Ian Buruma und Timothy Garton Ash erinnern an die wohlmeinenden Intellektuellen der westlichen Welt, die einst den Stalinismus, aber nicht den Kommunismus kritisieren wollten. Sie träumen von „Wandel durch Annäherung“, aber sie verirren sich auf einem „Dritten Weg“. Von Ulrike Ackermann.

Multikulturalismus ist nicht gleich Kulturrelativismus
8. März: Er könnte auch ein liberaler Kulturalismus sein, wie ihn der kanadische Philosoph und Politologe Will Kymlicka propagiert. Dann wäre die Frage, auf welcher Basis Minderheiten Gruppenrechte einfordern können. Von Jesco Delorme

Sowohl Voltaire als auch Lessing
10. März: Der heutige Streit zwischen den „Fundamentalisten der Aufklärung“ und den „Kulturrelativisten“ hat in Europa sehr alte Wurzeln. Beide Positionen sind vonnöten, um auf die islamische Herausforderung zu reagieren. Von Adam Krzeminski

Warum hat Ayaan Hirsi Ali unrecht?
14. März: Ayaan Hirsi Alis Thesen zur Unvereinbarkeit des islamischen Glaubens mit der Emanzipation der Frau sind reduktionistisch und dogmatisch. Bei der Lösung der Probleme kann nur eine Offenheit der westlichen Gesellschaft für die Entscheidungen der Migranten helfen. Von Halleh Ghorashi

Der Euro-Islam als Brücke zwischen Islam und Europa
20. März: Beim Euro-Islam geht es um den Gegenstand, nicht um das Profil von Personen wie Tariq Ramadan und Ayaan Hirsi Ali oder um irgendeinen postmodernen Nihilismus. Selbst Muslim und Migrant, erkenne ich, dass Europa eine zivilisatorische Identität hat und das Recht hat, diese zu bewahren. Das ist nicht gegen die Muslime gerichtet, weil die Idee Europas inklusiv ist; sie kann die Identität der Zuwanderer berücksichtigen, jedoch mit der Erwartung einer Anpassung ohne Selbstaufgabe. Von Bassam Tibi

Es ist ein großer Fehler, die Dissidenten innerhalb des Islams zu ignorieren
23. März: Ayaan Hirsi Ali bestreitet, dass der Islam mit der liberalen Gesellschaft vereinbar ist. Das tut auch Osama bin Laden. Wir sollten auf die hören, die beides sein wollen: gute Muslime und gute Bürger eines freies Landes. Von Timothy Garton Ash

Vom Recht auf die Differenz gelangt man rasch zur Differenz der Rechte
26. März: Es genügt nicht, den Terrorismus zu verurteilen. Zugleich muss sich die Religion, die ihm Nahrung gibt und auf die er sich zu Recht oder zu Unrecht beruft, verändern. Westeuropa spielt hier eine wichtige Rolle. Einige abschließende Bemerkungen zur Multikulturalismus-Debatte von Pascal Bruckner

Eine letzte Antwort
12. April 2007: Es geht nicht um ein entweder Hirsi Ali oder Tariq Ramadan. Eine letzte Antwort auf Pascal Bruckner. Von Ian Buruma und Timothy Garton Ash

Ein Kommentar zu “Multikulturalismus oder Leitkultur

  1. Wenn jemand sich einbildet, der liebe Gott, die Götter, oder irgendeine andere, höhere Macht brauche ihn/sie unbedingt, um hier nach dem Rechten zu sehen und dafür zu sorgen, dass der Wille dieses angeblich doch allmächtigen Wesens durchgesetzt wird, kann man doch nicht erwarten, dass dieser Mensch zum logischen Denken fähig ist. Zwischen Gläubigkeit und religiösem Wahn ist auch nur ein kleiner Schritt, wie man aus der Geschichte ja weiß. Solche Leute müssen nach Macht streben, oder können wenigstens behaupten, sie müssten es, weil xxx es so will. Dabei ist ein solcher Glaube ja doch im Grunde genommen Plasphemie, denn wer glaubt, Gott brauche ihn, hält sich ja für mächtiger als Gott.

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