S t a n d p u n k t e


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Politische Ethik ist eine Ethik der Verantwortung

Durch die Flüchtlingskrise lernt Europa gerade schmerzlich zwei Lektionen. Erstens: Die Zeiten, in denen man den USA der ersten Reihe fußfrei bei der Gestaltung des Weltgeschehens zusehen und im Nachhinein mit Manöverkritik glänzen konnte, sind vorbei. Zweitens: Der Nahe Osten heißt so, weil er nicht weit weg ist.

Sei 2011 führt Baschar-al Assad Krieg gegen die eigene Bevölkerung. Fast 300.000 Menschen sind getötet worden. Rund 4,6 Millionen Syrer sind ins Ausland geflohen, vor Assads Brandbomben oder dem IS-Terror. Über 8 Millionen leben als Vertriebene im eigenen Land.

Europa hat nichts unternommen, um die humanitäre Katastrophe zu beenden, bis die ersten auf der Flucht ertrunkenen Kinder an seine Küsten angeschwemmt worden sind. Im Gegenteil. Die Mittel für die Flüchtlingslager in Libanon, Jordanien, Irak, Ägypten und der Türkei wurden gravierend gekürzt, Finanzierungszusagen nicht eingehalten.

Mit der Flüchtlingskrise hat das Elend der failed states des Nahen Ostens mitten in Europa eingeschlagen. Darüber hinaus haben sich von der deutschen Willkommenskultur auch Kosovaren, Albaner, Afghanen, Pakistani, Iraker und Nordafrikaner angezogen gefühlt. Weniger als die Hälfte der Asylbewerber in Deutschland stammt aus Syrien. Dass die Ankunft von eineinhalb Millionen Menschen nicht in einer humanitären Katastrophe gemündet hat, ist einer aufopferungsbereiten Zivilgesellschaft zu verdanken.

Nun ist es das Privileg der virtuellen und realen Stammtische, der Talkshows, Feuilletons und Leitartikel, sich der eigenen Gesinnung hinzugeben, ohne die Folgen verantworten zu müssen. Politische Entscheidungen hingegen misst man nicht an ihrer Absicht sondern an ihren Folgen:

Die Bevölkerung ist verunsichert, weil der Staat seine Kernaufgabe, die innere und äußere Sicherheit des Landes zu gewährleisten, nur mehr punktuell erfüllt, was mit größtmöglicher Zurückhaltung formuliert ist. Die Menschen haben Sorge, dass mit hunderttausenden jungen Muslimen auch die Werte eines orthodoxen Islam importiert werden, der die mühsam errungene liberale Gesellschaftsordnung bedroht, und die politisch-kulturelle Elite keine Antwort auf diese Bedrohung findet. Gleiches gilt für den arabischen Antisemitismus. Der Zuzug von Millionen Flüchtlingen wird einen Verteilungskampf am unteren Ende der sozialen Skala auslösen. Die Unsicherheit bei der Bevölkerung und die Kluft zwischen öffentlicher und veröffentlichter Meinung bewirken einen Aufstieg rechtsradikaler und rechtspopulistischer Bewegungen.

Auf europäischer Ebene ist Deutschlands Flüchtlingspolitik isoliert. Die unkoordinierte und über weite Strecken unkontrollierte Aufnahme von 1,5 Millionen Menschen in den Schengenraum ist eine Belastung für die Sozial- und Sicherheitspolitik aller europäischen Staaten. Länder mit einer Jugendarbeitslosigkeit zwischen 20 und 45 Prozent können keine milliardenschweren Programme auf den Weg bringen, um die Neuankömmlinge in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Die Sicherheitsproblematik ist in ganz Europa evident. Der Sonderweg von Angela „stirbt der Euro, stirbt Europa“ Merkel bringt Schengen an den Rand des Scheiterns. Dabei ist die Reisefreiheit eine Errungenschaft, die für die Europäer um ein Vielfaches identitätsstiftender als der Euro ist.

Die Flüchtlinge innerhalb Europas nach Quoten aufzuteilen, funktioniert nicht. Von den vereinbarten 160.000 Flüchtlingen sind bislang gerade einmal 414 von den Zielländern aufgenommen worden. Was Deutschland nicht wundern sollte: Zum einen kann es Aufnahmequoten nicht einmal gegenüber den eigenen Kommunen durchsetzen, zum andern hat es bislang selbst jene europäische Solidarität verweigert, die es nun einfordert.

Griechenland und Italien wurden zu Beginn der Flüchtlingswelle völlig allein gelassen. Schon 2014 hörten die Hauptankunftsländer sukzessive auf, die Flüchtlinge zu registrieren und ließen sie ungehindert weiterziehen, weil es an den nötigen Ressourcen mangelte. Im Juni 2015 quittierte der italienische Regierungschef Matteo Renzi das Verhalten der europäischen Länder mit den Worten: „Wenn dies eure Idee von Europa ist, dann könnt Ihr sie behalten.“

Bislang folgt Deutschland einer Moral auf Sichtweite, die im doppelten Wortsinn kurzsichtig ist: weil sie nur jene einschließt, die es an die Landesgrenzen schaffen, und weil sie die Folgen für das eigene Land, für Europa und für den Wiederaufbau der Herkunftsländer vernachlässigt.

Weltweit befinden sich rd. 60 Millionen Menschen auf der Flucht. Schon die Dimension macht klar, dass eine unbegrenzte Aufnahme von Flüchtlingen das Problem nicht löst. Allein aus Syrien sind 12 Millionen auf Hilfsleistungen der internationalen Gemeinschaft angewiesen. Es ist verantwortungslos, diese Menschen auf einen gefährlichen Weg in die Mitte Europas zu locken, den nur gehen kann, wer stark genug ist, die Strapazen der Flucht zu überstehen und wohlhabend genug, die Mittel dafür aufzubringen. In jedem anderen Zusammenhang würde eine Politik, die nur den vergleichsweise Starken und Wohlhabenden zugute kommt, als neoliberal gegeißelt.

Der britische Migrationsforscher Paul Collier findet zur deutschen Flüchtlingspolitik klare Worte: „Deutschland gefällt sich offensichtlich in der Retterrolle. Aber es grenzt an keines der Krisen- oder Kriegsländer. All diese Menschen, die zu Ihnen kommen, haben sich aus sicheren Drittstaaten auf den Weg gemacht. Deutschland hat keinen einzigen Syrer vor dem Tod gerettet. Im Gegenteil: Deutschland hat trotz bester Absichten eher Tote auf dem Gewissen. Die Sache ist völlig aus dem Ruder gelaufen. Viele Menschen haben Merkels Worte als Einladung verstanden und sich danach überhaupt erst auf den gefährlichen Weg gemacht, haben ihre Ersparnisse geopfert und ihr Leben dubiosen Schleppern anvertraut.“

Selbstverständlich ist, dass Menschen in Not geholfen werden muss. Zu prüfen ist freilich, wo und wie. Ebenso selbstverständlich ist, dass ein Staat die Hoheit über sein Territorium zu wahren hat. Dass inzwischen behauptet wird, man könne eine Staatsgrenze überhaupt nicht sichern, verhöhnt nicht nur den Staatsbegriff sondern auch die Intelligenz. Die Sicherung der Grenzen komplett aufzugeben, weil sie nie vollständig sein kann, folgt der selben Logik, wie alle Geschwindigkeitskontrollen abzuschaffen, weil nicht sämtliche Raser erwischt werden können. Für den Schengenraum ist die Sicherung der Außengrenzen essentiell. Ohne gesicherte Außengrenzen kann es keine Reisefreiheit im Innern geben. Gesicherte Grenzen sind indes keine geschlossenen Grenzen. Zu entscheiden, wer das Staatsgebiet betritt, ist etwas anderes als zu verhindern, dass es überhaupt betreten wird.

Aus alldem ergeben sich 5 Minimalforderungen.

1. Wiederherstellung der Ordnung
Europa muss seine Außengrenzen konsequent sichern. Das ist eine Selbstverständlichkeit und dämmt auch das Schlepperunwesen ein. Gelingt das nicht, ist die Reisefreiheit innerhalb Europas Geschichte und wir werden noch in diesem Jahr an jeder europäischen Grenze Kontrollen erleben.
Europa muss sicherstellen, dass jeder, der die Grenze übertritt, registriert wird, auch das sollte selbstverständlich sein. Derzeit werden Flüchtlinge in Griechenland bestenfalls stichprobenartig registriert und in Österreich nur die ungefähr 10%, die hierzulande um Asyl ansuchen. Die Situation in Deutschland kenne ich nicht, sie dürfte aber ähnlich sein. Britische Medien haben zudem berichtet, dass Deutschland nicht imstande ist, den Aufenthaltsort von 600.000 Asylbewerbern zu bestimmen.
Es ist absurd, dass man in Socken mit dem Gürtel in der Hand am Gate steht, wenn man von Wien nach Hamburg fliegt, und gleichzeitig jeden Tag Tausende Menschen aus Kriegsgebieten in den Schengenraum strömen, von denen weder Personalien noch Gepäck überprüft werden.
Deutschland muss aufhören, mit falschen Willkommenssignalen Migrationsanreize zu liefern und muss seine Flüchtlingspolitik mit den europäischen Partnern abstimmen. Zuerst zur Party einzuladen und dann die Gäste auf die Nachbarn zu verteilen, ist keine solidarische Politik.
Damit untrennbar verbunden ist Punkt

2. Hilfe für die Flüchtlingslager vor Ort
Mit denselben Mitteln können vor Ort zehnmal mehr Flüchtlinge betreut werden als hierzulande. Ein „Marschall-Plan“ für die Anrainerstaaten kann den Flüchtlingen eine kurz- bis mittelfristige Perspektive bieten. Die 7 Milliarden Euro, die auf der Geberkonferenz in London im Gespräch sind, machen gerade einmal ein Drittel jener Summe aus, die Österreich den Steuerzahlern allein für eine Kärntner Provinzbank aufgebürdet hat. Im Aufbau von wirtschaftlichen Strukturen und überlebensfähigen Betrieben in den Lagern könnte Deutschland mit all seinem Know-how mit gutem Beispiel vorangehen. Ein Maßnahmenpaket aus gut dotierten Rückführungsabkommen, Förderungen für Betriebsansiedlungen und großzügiger Wirtschaftshilfe (um nur einige Stichworte zu nennen) ließe sich relativ kurzfristig auch alleine schnüren.
Die UNHCR nennt 7 Hauptgründe für die Massenflucht aus den Lagern seit 2015: Hoffnungslosigkeit, hohe Lebenskosten und steigende Armut, wenig Möglichkeit den Lebensunterhalt zu sichern, unterfinanzierte Hilfsprogramme, Schwierigkeiten bei der Verlängerung des rechtmäßigen Aufenthalts, wenig Bildungsmöglichkeiten, Unsicherheit.
Diese Fluchtgründe könnte man größtenteils mit einem Bruchteil jener Mittel beseitigen, die für die Integration der Neuankömmlinge in Europa erforderlich sind. Dazu kommt, dass die Lager in den umliegenden Ländern für die Ärmeren und Schwächeren leichter erreichbar sind, die nicht weniger Recht auf eine Lebensperspektive haben, als jene, die es nach Europa schaffen. Es gilt, den Flüchtlingen unmissverständlich zu vermitteln, dass ihre Perspektive nicht in Europa sondern in ihrer Heimat liegt und alles daran zu setzen, dass dies kein leeres Versprechen ist.

3. Flugverbotszonen
Dass die Bevölkerung nicht vor Assads Fassbomben und dem IS geschützt wird, ist eine Schande der internationalen Gemeinschaft. Seit Russland in den Konflikt eingetreten ist und Erdogan die Gunst der Stunde nützt, um die Kurden zu bombardieren, die den IS bekämpfen, ist die Aussicht auf großflächige safe havens in Syrien geringer geworden. Aber wenigstens könnten wir bei der Sicherung der Anrainerstaaten helfen.
In diesem Zusammenhang müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass die UNO nirgendwo in der Lage war, institutionalisierten Massenmord zu verhindern. Nicht in Ruanda, nicht in Jugoslawien, nicht in Darfur und nicht in Syrien. Allein in den genannten Konflikten wurden unter den Augen der Weltöffentlichkeit Millionen ermordet oder vertrieben.
Es gibt keine vernünftige Alternative zu einer gemeinsamen europäischen Außenpolitik, die über die militärische Potenz verfügt, sie auch durchzusetzen. Wenn es aus humanitären Gründen geboten ist, auch ohne UN-Beschluss. Wenn es sein muss, durch eine permanente „Koalition der Willigen“ innerhalb der EU. Die derzeitige Flüchtlingskrise ist nur ein Vorgeschmack auf alles, was noch kommt, wenn das nicht gelingt.

4. Asylverfahren vor Ort
Inzwischen dürfte die Erkenntnis allgemein gereift sein, dass es ein Fehler war, Asylverfahren nur innerhalb des Schengenraums zuzulassen und damit die ganze Last Italien, Griechenland und Spanien aufzubürden. Wer aus welchen Gründen auch immer nicht in den Flüchtlingslagern vor Ort Schutz vor Verfolgung finden kann, soll einen legalen Fluchtweg nach Europa offen haben. Asylverfahren sollen daher innerhalb der safe havens, in den Flüchtlingslagern oder in den Botschaften abgewickelt und erstinstanzlich entschieden werden. Auch das trägt dazu bei, Schleppern das Geschäftsmodell zu entziehen.

5. Trennung von Asyl- und Einwanderungspolitik
Einwanderungspolitik ist von Asyl- oder Flüchtlingspolitik strikt zu trennen. Schutzsuchende müssen sich nicht ökonomisch rechnen, Migranten sollten es. Flüchtlingen bietet man aus Humanität Schutz und aus keinem anderen Grund. Sie müssen nicht das Pensionssystem retten, das Wirtschaftswachstum anfeuern, die Kultur bereichern oder eine historische Schuld tilgen.
Österreich und Deutschland wehren sich gegen jede Faktizität seit Jahren dagegen, sich als Einwanderungsländer zu verstehen. Beide Länder haben sich nach der EU-Osterweiterung sieben Jahre lang gegen den Zuzug qualifizierter Arbeitskräfte abgeschottet, die von der Wirtschaft benötigt worden wären und für die man keinen einzigen Integrationsbeauftragten gebraucht hätte.
Dass die fehlende Einwanderungspolitik durch Asylpolitik ersetzt wird, führt zu grotesken Entscheidungen. Jeder kennt Fälle, in denen bestens integrierte Menschen wider jede Vernunft des Landes verwiesen werden. Ich habe in den letzten Jahren mindestens ein Dutzend Akademiker kennengelernt, die auf Kosten Österreichs eine Post-Doc Ausbildung gemacht und danach keine Arbeitserlaubnis erhalten haben. Eine Politik, die gut ausgebildete Nettozahler abschiebt, deren Ausbildung sie finanziert hat, und gleichzeitig demographische Defizite durch die Zuwanderung von Un- bzw. noch-nicht-Qualifizierten ausgleichen will, ist schlichtweg pervers.
Wir brauchen endlich eine aktive Einwanderungspolitik nach dem Vorbild erfolgreicher Einwanderungsländer wie USA, Kanada und Australien. Alle traditionellen Einwanderungsländer funktionieren wie exklusive Clubs: der Zutritt ist nicht einfach, aber wenn man erst einmal aufgenommen ist, gehört man vorbehaltslos dazu.

Jeder Mensch sei mit unveräußerlichen Rechten geboren, darunter Leben, Freiheit und das Streben nach Glück, heißt es in der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung. Wer in seiner Heimat keine Hoffnung darauf hat, wird sich früher oder später auf den Weg in reichere, friedlichere Gegenden machen. Langfristig führt daher kein Weg daran vorbei, die Ursachen der Fluchtbewegungen zu bekämpfen. Für Europa bedeutet das, fair governance zu belohnen, die wirtschaftliche Entwicklung in den Herkunftsländern mit Know-how und Investitionen zu fördern und wo nötig auch militärisch für Sicherheit zu sorgen. Europa muss lernen, seine Interessen global zu definieren und durchzusetzen. Das mag man Großmachtpolitik nennen. Oder einfach nur moralisch.


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Restart

Aufgrund verschiedener Reaktionen auf meinen letzten Beitrag noch ein paar Ergänzungen:

Selbstverständlich sollte Arigona in Österreich bleiben dürfen. Aber nicht unter Missbrauch des Asylrechts.

Es gibt in Österreich grob geschätzt ein paar hundert gut integrierte „Illegale“, die von Abschiebung bedroht sind. Dass die Republik für diese paar Leute nicht eine menschlich großzügige Regelung findet, ist ein Skandal und zeugt von der Orientierungslosigkeit, die ich in meinem Beitrag angeprangert habe.

Aber es kann nicht angehen, dass sich eine Handvoll Medien und NGO ein oder zwei gut vermarktbare Einzelfälle herauspicken, die dann privilegiert behandelt werden sollen. Dieses „Privileg“ ist ohnehin immer ein zweischneidiges Schwert: meist überwiegen die eigenen politischen Interessen jene derer, die man vorgibt zu beschützen. Auch im konkreten Fall glaube ich kaum, dass der Medienhype um Arigona ihrer Sache wirklich hilft.

Dass sich die öffentliche Aufmerksamkeit seit zwei Jahren auf diesen Einzelfall konzentriert, lenkt vom eigentlichen Thema ab: Wir brauchen dringend eine praktikable Einwanderungspolitik, die eine kontrollierte Zuwanderung ermöglicht.

Unsere Programme sind alle entweder abgestürzt oder eingefroren. Höchste Zeit für einen Restart.


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Asyl statt Einwanderungspolitik

Der Asylantrag von Arigona Zogaj, ihren beiden Geschwistern und ihrer Mutter wurde abgelehnt, jetzt droht der Familie die Abschiebung. Das ist tatsächlich ein Skandal: nach allen rechtsstaatlichen Grundsätzen wären die Zogajs entweder gar nicht hier oder schon längst weg.

Die Rollen sind klar verteilt: hier die treuherzige Teenagerin, die davon träumt, in Österreich Steuern zu zahlen, dort die herzlosen Law-and-Order Bürokraten des Innenministeriums, getrieben von eiskalten Politikern, die auf rechtsradikale Wähler schielen. Die Rehleinaugen auf der einen Seite, der böse Blick auf der anderen.

In Wahrheit strotzt die Kampagne für die Familie Zogaj nur so vor Scheinheiligkeit und Halbwahrheiten.

Die Geschichte beginnt im Mai 2001. Arigonas Vater wird von Schleppern illegal nach Österreich gebracht, sein Asylantrag wird ein Jahr darauf abgelehnt. Die Schlepper wurden übrigens aus den Erlösen einer Straftat bezahlt.  Herr Zogaj wird nicht abgeschoben. Im Gegenteil, im September 2002 reisen seine Frau und die fünf Kinder ebenfalls illegal nach Österreich ein und suchen um Asyl an. Im November 2002 werden die Asylanträge der ganzen Familie in zweiter Instanz abgelehnt. Zu diesem Zeitpunkt ist Arigona 10 Jahre alt und gerade einmal drei Monate im Land. Wäre die Familie  damals abgeschoben worden, die menschliche Härte dürfte sich in Grenzen gehalten haben.

Doch von Abschiebung ist keine Rede. Es beginnt ein juristischer Eiertanz der Sonderklasse, ein Asylantrag folgt dem anderen, ausnahmslos jeder wird negativ beschieden. Jede Berufung bleibt erfolglos. Die Strategie des Familienanwalts, für die ganze Familie Asyl zu erwirken, ist riskant und scheitert endgültig im September 2007. Als die Familie abgeschoben werden soll, taucht Arigona bei einem Pfarrer unter und droht mit Selbstmord.

Jetzt nähert sich die schon bis dato beispiellose Medienkampagne ihrem vorläufigen Höhepunkt. Nie zuvor wurde ein Asylwerber mit soviel medialer Zuneigung überschüttet. Die halbwüchsige Hauptschülerin mit unauffälligen Deutschkenntnissen wird zur Paradeimmigrantin gehypet. Ihre Familie wird in den Medien als mustergültig integriert beschrieben. Arigona steigt zur Ikone der Multikulti Szene auf.

In der Folge darf die Mutter bleiben, um nach der Tochter zu sehen. Der Vater und die vier Brüder werden abgeschoben. Österreich hilft ein wenig beim Aufbau einer neuen Existenz im Kosovo (was den Vater nicht daran hindert, sich von seiner Familie abzusetzen). Arigona wird zugesichert, ihre Schule in Österreich abschließen zu dürfen, im Juni 2008 sollen Mutter und Tochter das Land verlassen. Als es soweit ist, folgen ein Selbstmordversuch der Mutter, psychiatrische Gutachten, neue Asylanträge. Beide bleiben im Land. Im Dezember 2008 gelangen auch die Geschwister wieder illegal nach Österreich, der illegale Grenzübertritt wird vom ORF gefilmt. Die jüngeren zwei bleiben bis heute, sodass Arigona, ihre Mutter und zwei Geschwister sieben Jahre nach der Ablehnung ihres ersten Asylantrags noch immer im Land sind.

Das ist nur eine sehr grobe Zusammenfassung der Ereignisse. Der ORF hat eine detaillierte Chronik der Ereignisse erstellt. Der Blick in die Vergangenheit ist nötig, um zu verstehen, welche Mythen sich rund um den Fall Arigona gebildet haben.

Nach allem was wir heute wissen, erfolgte die Ablehnung der Asylanträge ziemlich sicher von Anfang an zu Recht. Das Asylrecht zielt auf Menschen ab, die vor akuter politischer Verfolgung bedroht sind oder aus einem Kriegsgebiet fliehen und deshalb im Ausland Schutz suchen. Nichts davon trifft auf die Familie Zogaj zu. Außerdem war die Integration der Familie in Österreich bei weitem nicht so mustergültig wie in den Medien beschrieben, einzelne Familienmitglieder sind sogar straffällig geworden.

Entgegen landläufiger Meinung wurde das Asylverfahren relativ zügig durchgeführt. Bis zum ersten negativen Bescheid für Arigona dauerte es gerade einmal drei Monate. Dass sich das Verfahren inzwischen über acht Jahre hinzieht, liegt daran, dass die Familie jedes nur erdenkliche Mittel ergriff – juristisch und medial, bis hin zu Selbstmorddrohungen – um die Durchsetzung von rechtskräftigen Bescheiden zu verhindern und so der Abschiebung zu entgehen. Kein Staat der Welt lässt sich ad infinitum erpressen.

Die Inhumanität, die gut integrierte Arigona auszuweisen, resultiert aus der vorgeblichen Humanität, die noch nicht integrierte Arigona nicht schon längst ausgewiesen zu haben.

Dass sich die Jugendliche inzwischen in Österreich gut eingelebt hat, ist selbstverständlich. Die Integration eines Asylwerbers ist aber aus gutem Grund kein Asylkriterium. Asyl ist das Recht eines jeden politisch Verfolgten oder Kriegsflüchtigen auf Schutz. Es ist keine Belohnung für einen Deutschkurs und kein Preis für Sympathie.

Die Wahrheit ist: Arigona Zogaj ist kein Asylfall, sie ist nie einer gewesen. Asyl für Arigona wäre eine Verhöhnung tausender abgeschobener Asylwerber, die genauso viel oder genauso wenig Recht darauf gehabt hätten, ihr Glück in Österreich zu versuchen, aber den Rechtsstaat dabei nicht bis über die Grenze der Absurdität hinaus ausgereizt haben.

An dieser Stelle könnte man die Geschichte über Arigona enden lassen, manifestierte sich an ihr nicht die ganze Verlogenheit der österreichischen Einwanderungspolitik – sofern man von einer solchen überhaupt sprechen kann. Österreich ist ebenso wie Deutschland seit Jahrzehnten ein Einwanderungsland. 2006 waren laut Statistik Austria 14,6% der Bevölkerung ausländischer Herkunft (einschließlich der eingebürgerten Zuwanderer). Das sind immerhin 2% mehr als in den USA.

Im Gegensatz zu sämtlichen klassischen Einwanderungsländern verlief diese Zuwanderung völlig planlos und ungesteuert. Die Wurzeln unseres Verständnisses von Zuwanderung liegen im latent rassistischen Gastarbeiterkonzept der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts. Ausländische Arbeitskräfte werden nur für unqualifizierte Tätigkeiten ins Land geholt, für die sich keine Einheimischen finden. Das entspringt der Vorstellungswelt einer Sklavenhaltergesellschaft. Immigranten sind keine Gäste. Sie gehen nicht nach dem Nachtisch.

Klassische Einwanderungsländer bieten ihren Zuwanderern Arbeit und Anerkennung. Im Gegenzug fordern sie Qualifikation, Leistung und Integration. Österreich leugnet seine Realität als Einwanderungsland beharrlich. Wir bieten Sozialhilfe statt Respekt, schämen uns dann aber doch ein wenig und trauen uns dafür auch nichts zu fordern. Anstatt transparente Kriterien zu definieren, WEN wir in unser Land aufnehmen wollen, quälen wir uns mit der Frage, WIEVIELE. Das Ergebnis ist fatal: Einwanderungspolitik verkommt zum Abwehrkampf.

Mit an vorderster Front in diesem Abwehrkampf – der noch dazu ohnehin nicht zu gewinnen ist – steht ausgerechnet jene Partei, die sich einst die internationale Solidarität auf ihre Fahnen geheftet hatte. Die SPÖ hat Einwanderer seit jeher zu allererst als Bedrohung ihrer Klientel wahrgenommen. Sie ist in ihrer fremdenfeindlichen Politik der FPÖ nichts schuldig geblieben, allen Lippenbekenntnissen zum Trotz. Man erinnere sich an die große Koalition Ende des vorigen Jahrhunderts: noch mehr große und kleine Gemeinheiten wie dem SPÖ-Innenminister Schlögl hätten auch Jörg Haider nicht einfallen können. Inzwischen sind die Türen so fest zu, dass Zuwanderer von außerhalb der EU kaum mehr eine Chance haben legal einzuwandern, unabhängig von ihrer Leistungs- und Integrationsbereitschaft.

Unser rein quantitatives Verständnis von Zuwanderung steht der Integration jener im Weg, die es irgendwie ins Land geschafft haben. Integration erfolgt über Anerkennung und die Möglichkeit zu sozialem Aufstieg. Eine entsprechend verfasste Gesellschaft begünstigt integrationsfähige Einwanderer, die ihren Nachkommen „ein besseres Leben“ ermöglichen wollen. Aus diesem Grund schlägt die Arbeitsethik der USA den europäischen Sozialstaat in ihrer Integrationskraft um Längen: „In the U.S. model an immigrant gets dignity by contributing to the whole and by the dignity of his work.“

Demgegenüber sind wir für anatolische Analphabeten wesentlich attraktiver als für indische Mathematiker oder polnische Facharbeiter. Die gehen nach England, Kanada, Australien oder in die Vereinigten Staaten, wo leistungswillige Zuwanderer bessere Aufstiegschancen vorfinden und weniger Diskriminierungen ausgesetzt sind. Für uns bleibt was kommt, und was kommt bleibt dann auch. So schafft die fehlende Einwanderungspolitik von heute das Lumpenproletariat von morgen.

Am linken Ende des politischen Spektrums dominieren Realitätsverweigerung und Wunschdenken. Das politisch korrekte Verschweigen der mit der unkontrollierten Zuwanderung durch die Hintertür verbundenen Probleme stärkt die rechtsradikalen Parteien. Die Mischung aus Fremdenhass und politischer Korrektheit ergibt eine unappetitliche Melange öffentlicher Orientierungslosigkeit. Entweder es wird beschwichtigt, wo man aufschreien müsste, oder gehetzt, wo man helfen müsste.

Um sich realen Problemen offen zu stellen und die Basis für eine Einwanderungsgesellschaft zu entwickeln, die für die einheimische Bevölkerung gleichermaßen attraktiv ist wie für integrations- und aufstiegswillige Einwanderer, bräuchte es Mut, Aufrichtigkeit und intellektuelle Redlichkeit. Nichts davon ist in der aktuellen politischen Diskussion erkennbar.

Und hier schließt sich der Kreis zum Fall Arigona. Asyl kann niemals Ersatz für Einwanderungspolitik sein. Einwanderung über das Asylrecht steuern zu wollen ist genauso verlogen wie gefährlich.

Verlogen, weil man sich damit vor einer breiten Diskussion über Fremdenpolitik jenseits von Parteihickhack und Populismus drückt. Eine aufrichtige Debatte hätte sich darum gedreht, unter welchen Voraussetzungen man ALLE gut integrierten illegalen Einwanderer amnestieren und einbürgern kann (ähnlich wie Bush es für die USA vorgeschlagen hatte).

Gefährlich, weil Asyl die letzte Zuflucht vor Verfolgung und Vernichtung ist. Entsteht in der Bevölkerung der Eindruck, dass das Asylrecht dazu missbraucht wird, Einwanderer durch die Hintertür ins Land zu holen, wird jede Regierung mit einer Verschärfung der Asylbestimmungen gegensteuern. Die Folgen können für tatsächlich Schutzbedürftige tödlich sein. Asyl ist ein kostbares Recht. Gearde darum ist es mit äußerster Sorgsamkeit anzuwenden.

Im Übrigen ist ein europaweit einheitliches Asyl- und Fremdenrecht längst überfällig. Dass ein solches nicht einmal in Schengenland existiert ist, eine Schande, die angesichts dessen, dass man Zeit findet, sich mit Glühbirnen zu beschäftigen, noch viel monströser wirkt.

All das macht Arigona nicht zum Asylfall. Sie hätte das Land längst verlassen müssen und einen Einwanderungsantrag stellen sollen. Wenn dem nicht stattgegeben würde – das wäre das eine Unmenschlichkeit, gegen die es sich zu protestieren lohnte!

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Volksverhetzung?

Thilo Sarrazin, ehemaliger Finanzsenator im Berliner Senat und seit Mai 2009 Vorstand der Deutschen Bundesbank, gab in Lettre International ein Interview über die zukünftige Entwicklung Berlins. Aufgrund von kritischen Aussagen über türkische und arabische Immigranten und den wachsenden Anteil der Unterschicht an der Gesamtbevölkerung Berlins wird er deutschlandweit als rechtsradikal beschimpft. Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen Volksverhetzung, die SPD diskutiert seinen Parteiausschluss. Sarrazin wird wahrscheinlich nicht ins Gefängnis müssen, seinen Job wird er aber wohl verlieren.

Die hysterischen Reaktionen sind heuchlerisch. Unter dem Deckmantel der Politischen Korrektheit wird die inhaltliche Auseinandersetzung mit Themen abgewürgt, die man offen diskutieren kann, darf und soll.

Dass die erfolgreiche Integration von Immigranten nicht zuletzt von deren kulturellem Background abhängt, ist keine neue Erkenntnis. Schon 2006 hat Siegfried Kohlhammer eindrucksvoll beschrieben, warum „Erfolg und Misserfolg der Einwanderer weniger davon abhängen, wie man auf sie im Gastland reagiert, sondern davon, wie sie auf das neue Land reagieren.“ Einwanderer aus Asien sind meistens wesentlich erfolgreicher als solche aus der Türkei oder aus arabischen Ländern, egal ob in Europa, den USA oder anderswo. Das ist kein Vorurteil und schon gar nicht rassistisch, sondern bloße Empirie.

„Sarrazin behauptet, daß in Berlin vierzig Prozent aller Geburten in der Unterschicht stattfinden, und erklärt damit, daß das Niveau an den Schulen kontinuierlich sinkt, anstatt zu steigen. Stimmt die Aussage etwa nicht? Sind es vielleicht zehn Prozent statt vierzig? Und steigt das Niveau vielleicht anstatt zu sinken? Man kann die Probe mit all den Reizsätzen machen, die jetzt zitatweise herumgereicht werden: Die Araber und Türken hätten einen zwei- bis dreimal höheren Anteil an Geburten, als es ihrem Bevölkerunganteil entspreche. Große Teile seien weder integrationswillig noch integrationsfähig. Wahr oder falsch? Der öffentliche Diskurs bei uns verlangt, daß diese Frage ignoriert wird. Die Wirklichkeit – sie kommt einfach nicht vor.“, ärgert sich Burkhard Müller-Ullrich.

Es ist nur ein schmaler Grat zwischen Political Correctness und Orwell’schem Neusprech. Er verläuft an der Grenze zur Leugnung der Realität, wenn diese nicht ins eigene Weltbild passt, weil nicht sein kann, was nicht sein darf.

LI: Sie sprechen so sanftmütig und wohlwollend, wie Sie nie zuvor gesprochen haben.

Die Probleme sind lösbar; ob sie gelöst werden, weiß ich nicht. Man muß die Ebenen analytisch trennen. Man muß sehen, was an Verbänden in die Stadt kommt, was die Bundesregierung hineinbringt — unabhängig davon, was die Verwaltungskörperschaft aus eigenen Mitteln tut. Die Stadt hat eine überdimensionierte Infrastruktur für 4,5 Millionen Menschen, das sieht man an der Breite der Straßen. Die Stadt hat einen produktiven Kreislauf von Menschen, die Arbeit haben und gebraucht werden, ob es Verwaltungsbeamte sind oder Ministerialbeamte. Daneben hat sie einen Teil von Menschen, etwa zwanzig Prozent der Bevölkerung, die nicht ökonomisch gebraucht werden, zwanzig Prozent leben von Hartz IV und Transfereinkommen; bundesweit sind es nur acht bis zehn Prozent. Dieser Teil muß sich auswachsen.

Eine großes Zahl an Arabern und Türken in dieser Stadt, deren Anzahl durch falsche Politik zugenommen hat, hat keine produktive Funktion, außer für den Obst- und Gemüsehandel, und es wird sich vermutlich auch keine Perspektive entwickeln. Das gilt auch für einen Teil der deutschen Unterschicht, die einmal in den subventionierten Betrieben Spulen gedreht oder Zigarettenmaschinen bedient hat. Diese Jobs gibt es nicht mehr. Berlin hat wirtschaftlich ein Problem mit der Größe der vorhandenen Bevölkerung.

LI: Wenn Sie sagen „auswachsen”, meinen Sie damit, daß die Leute sterben und sich diese Schicht nicht wieder neu generiert durch Kinder, Enkel usw.?

Niels Bohr hat gesagt, er hat noch nie jemanden kennengelernt, der seine wissenschaftliche Meinung geändert hat. Wissenschaftliche Meinungen sind immer nur ausgestorben. Und das ist auch sonst so. An das eine erinnern sich die Leute nicht mehr, und das andere muß sich auswachsen. Berlin wird niemals von den Berlinern gerettet werden können. Wir haben ein schlechtes Schulsystem, das nicht besser werden wird. Berlin ist belastet von zwei Komponenten: der Achtundsechzigertradition und dem Westberliner Schlampfaktor. Es gibt auch das Problem, daß vierzig Prozent aller Geburten in der Unterschicht stattfinden. Hier werden Trends verstärkt sichtbar, die ganz Deutschland belasten. So daß das Niveau an den Schulen kontinuierlich sinkt, anstatt zu steigen. In Berlin gibt es stärker als anderswo das Problem einer am normalen Wirtschaftskreislauf nicht teilnehmenden Unterschicht.

LI: Haben Sie die Idee, daß Berlin eine dynamische, aus eigener Kraft wachsende Stadt werden könnte, aufgegeben?

Wie sieht die Wirtschaft der Zukunft aus? In den westlichen Industriegesellschaften werden die einfachen und mittleren Arbeitsplätze in der Warenproduktion, aber auch in Dienstleistungen, die man elektronisch übermitteln kann, ob das Call-Center sind oder einfache Ingenieurs- und Konstrukteurstätigkeiten, zunehmend ins Ausland verlagert. Wir bewegen uns auf einen Weltarbeitseinheitslohn zu. Der Arbeitsplatz eines Wissenschaftlers in der Chemie kostet bei uns und in Schanghai etwa dasselbe. Die Kosten für das Labor und die Stoffe sind nicht sehr verschieden. Man macht das dort, wo es am besten geht. Es kommt nicht so genau darauf an. Unten wird der Arbeitslohn im Prinzip gesetzt von den vielen fleißigen asiatischen Arbeitern, von Thailand bis China. Ein großer Flachbildfernseher kostet zehn Dollar Transportkosten von Schanghai nach Hamburg. Das ist das Problem.

Betroffen werden von dieser Entwicklung in ganz Europa einfache und mittlere Tätigkeiten, besonders solche für Ungelernte. Deshalb steigen Arbeitslöhne hier nicht mehr, deshalb gibt es dort die höchste Arbeitslosigkeit. Benachteiligte aus bildungsfernen Schichten — davon hat Berlin besonders viele. Es gibt auch keine Methode, diese Leute vernünftig einzubeziehen. Es findet eine fortwährende negative Auslese statt. Das ist für die Stadtpolitik von Bedeutung. Ich habe gesagt: Unsere Bildungspopulation wird von Generation zu Generation dümmer. Der Intellekt, den Berlin braucht, muß also importiert werden, und er wird auch importiert werden, wie im New York der fünfziger Jahre, als es Harlem mit seiner zunehmenden Hoffnungslosigkeit auf der einen Seite gab und das Leben in Midtown und um den Central Park auf der anderen Seite.

LI: Eigentlich wäre es doch plausibel, daß man im öffentlichen Dienst, wo die Politik direkten Zugriff hat, versucht, eine Integrationspolitik exemplarisch durchzusetzen, indem man im Polizeidienst, in Justiz- und Finanzbehörden, in der bürgernahen Verwaltung bis zu einem gewissen Grad Zugang schafft für Menschen mit beispielsweise türkischem Hintergrund. Wir haben den Justizsenat, die Finanzverwaltung, den Innensenat, den Ausländerbeauftragten, die Gewerkschaft ver.di, den DGB um Zahlen zu der Frage gebeten, wie viele Menschen mit ausländischem Hintergrund in der öffentlichen Verwaltung tätig sind und wie viele im einfachen, mittleren und gehobenen Dienst. Niemand konnte uns die Zahlen geben. Man hat sie nie erhoben.

Die Berliner Verwaltung war bei Zahlen noch nie gut.

LI: Das ist doch erstaunlich; wir dachten, es mußte ein Bewußtsein davon geben, daß man auch im Sinne symbolischer Anerkennung etwas für die Integration leistet.

Das sehe ich anders. Man muß aufhören, von „den” Migranten zu reden. Wir müssen uns einmal die unterschiedlichen Migrantengruppen anschauen. Die Vietnamesen: Die Eltern können kaum Deutsch, verkaufen Zigaretten oder haben einen Kiosk. Die Vietnamesen der zweiten Generation haben dann durchweg bessere Schulnoten und höhere Abiturientenquoten als die Deutschen. Die Osteuropäer, Ukrainer, Weißrussen, Polen, Russen weisen tendenziell dasselbe Ergebnis auf. Sie sind integrationswillig, passen sich schnell an und haben überdurchschnittliche akademische Erfolge. Die Deutschrussen haben große Probleme in der ersten, teilweise auch der zweiten Generation, danach läuft es wie am Schnürchen, weil sie noch eine altdeutsche Arbeitsauffassung haben. Sobald die Sprachhindernisse weg sind, haben sie höhere Abiturienten- und Studentenanteile usw. als andere. Bei den Ostasiaten, Chinesen und Indern ist es dasselbe.

Bei den Kerngruppen der Jugoslawen sieht man dann schon eher „türkische” Probleme; absolut abfallend sind die türkische Gruppe und die Araber. Auch in der dritten Generation haben sehr viele keine vernünftigen Deutschkenntnisse, viele gar keinen Schulabschluß, und nur ein kleiner Teil schafft es bis zum Abitur. Jeder, der integriert werden soll, muß aber durch unser System hindurch. Er muß zunächst Deutsch lernen.

Die Kinder müssen Abitur machen. Dann findet die Integration von alleine statt. Hinzu kommt das Problem: Je niedriger die Schicht, um so höher die Geburtenrate. Die Araber und Türken haben einen zwei- bis dreimal höheren Anteil an Geburten, als es ihrem Bevölkerungsanteil entspricht. Große Teile sind weder integrationswillig noch integrationsfähig. Die Lösung dieses Problems kann nur heißen: Kein Zuzug mehr, und wer heiraten will, sollte dies im Ausland tun. Ständig werden Bräute nachgeliefert: Das türkische Mädchen hier wird mit einem Anatolen verheiratet, der türkische Junge hier bekommt eine Braut aus einem anatolischen Dorf. Bei den Arabern ist es noch schlimmer.

Meine Vorstellung wäre: generell kein Zuzug mehr außer für Hochqualifizierte und perspektivisch keine Transferleistungen mehr für Einwanderer. In den USA müssen Einwanderer arbeiten, weil sie kein Geld bekommen, und werden deshalb viel besser integriert. Man hat Studien zu arabischen Ausländergruppen aus demselben Clan gemacht; ein Teil geht nach Schweden mit unserem Sozialsystem, ein anderer Teil geht nach Chicago. Dieselbe Sippe ist nach zwanzig Jahren in Schweden immer noch frustriert und arbeitslos, in Chicago hingegen integriert. Der Druck des Arbeitsmarktes, der Zwang des Broterwerbs sorgen dafür. Das sind Dinge, die man nur durch Bundesrecht ändern kann. Für Berlin ist meine Prognose düster, was diese Themen betrifft. Aber es kann in einer Stadt, in der man prächtig leben kann, gleichzeitig kompakte und wachsende, ungelöste Probleme geben. Genauso wird es in Berlin werden.

LI: Sind für das Scheitern der Integration nicht beide Seiten verantwortlich? Oder liegt es nur daran, daß diese Menschen sich nicht integrieren wollen?

Die Integration hat Stufen. Die erste Vorstufe ist, daß man Deutsch lernt, die zweite, daß man vernünftig durch die Grundschule kommt, die dritte, daß man aufs Gymnasium geht, dort Examen macht und studiert. Wenn man durch ist, dann braucht man gleiche Chancen im öffentlichen Dienst. So ist die Reihenfolge. Es ist ein Skandal, daß die Mütter der zweiten, dritten Generation immer noch kein Deutsch können, es allenfalls die Kinder können, und die lernen es nicht wirklich. Es ist ein Skandal, wenn türkische Jungen nicht auf weibliche Lehrer hören, weil ihre Kultur so ist. Integration ist eine Leistung dessen, der sich integriert.

Jemanden, der nichts tut, muß ich auch nicht anerkennen. Ich muß niemanden anerkennen, der vom Staat lebt, diesen Staat ablehnt, für die Ausbildung seiner Kinder nicht vernünftig sorgt und ständig neue kleine Kopftuchmädchen produziert. Das gilt für siebzig Prozent der türkischen und für neunzig Prozent der arabischen Bevölkerung in Berlin. Viele von ihnen wollen keine Integration, sondern ihren Stiefel leben. Zudem pflegen sie eine Mentalität, die als gesamtstaatliche Mentalität aggressiv und atavistisch ist.

Die Türkei ist das Land, wo man heute noch bestraft wird, wenn man vom Völkermord an den Armeniern redet. Ich war 1978 zum ersten Mal in der Türkei, dienstlich mit meinem damaligen Chef, Herbert Ehrenberg, der Arbeitsminister war. Ich war in seinem Stab. Wir kamen von Ankara, fuhren vom Flughafen rein, vorn saß mein Minister mit dem türkischen Minister, und ich saß im Wagen dahinter mit dem türkischen Staatssekretär auf der Rückbank. Der Staatssekretär sprach Deutsch und fragte mich, wie viele Einwohner Deutschland habe und wie unsere Geburtenraten seien, und dann sagte er, im Jahre soundso werden wir Deutschland an Bevölkerungsgröße überholt haben. Darauf war er stolz. Das ist dieselbe Mentalität, die Erdogan dazu verleitet hat, diese Rede in der Kölnarena zu halten, wie er sie gehalten hat.

Die Türken erobern Deutschland genauso, wie die Kosovaren das Kosovo erobert haben: durch eine höhere Geburtenrate. Das würde mir gefallen, wenn es osteuropäische Juden wären mit einem um 15 Prozent höheren IQ als dem der deutschen Bevölkerung. Ich habe dazu keine Lust bei Bevölkerungsgruppen, die ihre Bringschuld zur Integration nicht akzeptieren, und auch, weil es extrem viel Geld kostet und wir in den nächsten Jahrzehnten genügend andere große Herausforderungen zu bewältigen haben.

LI: Politisch kann man zu einer gelingenden Integration aktiv nichts beitragen?

Man stößt gegen viele Mauern der politischen Korrektheit, aber man merkt, daß der Ton an Deutlichkeit zunimmt, wir haben noch nicht verstanden, daß wir ein kleines Volk sind. Wir verstehen uns immer noch als ein großes Volk. 1939, als der Zweite Weltkrieg begann, hatte Deutschland 79 Millionen Einwohner, die USA 135, Rußland 160 und England 50. Die Proportionen haben sich völlig verschoben. Wenn von unseren 80 Millionen praktisch dreißig Prozent im Rentenalter sind, sind wir bereits eine relativ kleine Bevölkerung. Wir sind näher an den Holländern und Dänen als an den USA. Daß diese kleinen Völker ihre Ausländer heute mit viel radikaleren Programmen als wir forciert integrieren, hat einen guten Grund. Heute muß man Sprachtests in den Botschaften machen, davor darf man gar nicht einreisen. Sie haben spät angefangen, aber sie haben wenigstens angefangen.

Wenn die Türken sich so integrieren würden, daß sie im Schulsystem einen anderen Gruppen vergleichbaren Erfolg hätten, würde sich das Thema auswachsen. Der vietnamesische Kioskbesitzer wird immer gebrochen Deutsch sprechen, weil er erst mit dreißig eingewandert ist und ungebildet war. Wenn seine Kinder Abitur machen oder Handwerker werden, hat sich die Sache erledigt. Türkische Anwälte, türkische Arzte, türkische Ingenieure werden auch Deutsch sprechen, und dann wird sich der Rest relativieren. So aber geschieht nichts.

Die Berliner meinen immer, sie hätten besonders große Ausländeranteile; das ist falsch. Die Ausländeranteile von München, Stuttgart, Köln oder Hamburg sind viel höher. Aber die Ausländer dort haben einen geringeren Anteil an Türken und Arabern und mischen sich über breite Ausländergruppen. Zudem sind die Migranten in den Produktionsprozeß integriert. Während es bei uns eine breite Unterschicht gibt, die nicht in Arbeitsprozesse integriert ist. Doch das Berliner Unterschichtproblem reicht weit darüber hinaus. Darum bin ich pessimistisch.

Wir haben in Berlin vierzig Prozent Unterschichtgeburten, und die füllen die Schulen und die Klassen, darunter viele Kinder von Alleinerziehenden. Wir müssen in der Familienpolitik völlig umstellen: weg von Geldleistungen, vor allem bei der Unterschicht. Ich erinnere an ein Dossier der Zeit dazu. Es berichtet von den zwanzig Tonnen Hammelresten der türkischen Grillfeste, die die Stadtreinigung jeden Montagmorgen aus dem Tiergarten beseitigt — das ist keine Satire. Der Neuköllner Bürgermeister Buschkowsky erzählt von einer Araberfrau, die ihr sechstes Kind bekommt, weil sie durch Hartz IV damit Anspruch auf eine größere Wohnung hat. Von diesen Strukturen müssen wir uns verabschieden. Man muß davon ausgehen, daß menschliche Begabung zu einem Teil sozial bedingt ist, zu einem anderen Teil jedoch erblich. Der Weg, den wir gehen, führt dazu, daß der Anteil der intelligenten Leistungsträger aus demographischen Gründen kontinuierlich fällt. So kann man keine nachhaltige Gesellschaft bauen, das geht für ein, zwei, drei Generationen gut, dann nicht mehr. Das klingt sehr stammtischnah, aber man kann das empirisch sehr sorgfältig nachzeichnen.

Thilo Sarrazin in Lettre International, Klasse statt Masse (pdf)

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